Kurzprosa: Der fehlende Augenblick

Guten Tag,

 

hier kommt nach längerer Zeit wieder einmal ein Stück Kurzprosa, das seiner Zeit ganz spontan entstanden ist. Es geht um eine ganz besondere erste Kontaktaufnahme. – Wie könnte es weiter gehen? – Was könnte noch über die Schuldfrage und Jasmin geschrieben werden? – Dazu sage ich nur, dass ich dazu viel schreiben könnte aber entschieden habe, es so zu lassen.

Der fehlende Augenblick

„Aus vielen Gründen hatten wir keine Chance diese Sache zu einem guten irdischen Ende zu bringen, meine Schutzbefohlene und ich. Nie hätte ich gedacht, bei meinem Dienst irdische Müdigkeit empfinden zu müssen. Aber ich bin ja auch noch nicht lange dabei. Die Schuld an allem hat dieses Loch in der Ewigkeit. Dieses Loch dauerte noch nicht einmal eine Sekunde. Aber dafür ist es fast unendlich tief. Das sind die fatalen Verhältnisse von Zeit und Raum. Das menschliche Auge kann in einer Sekunde acht Bilder wahrnehmen. so muss das Loch in der Ewigkeit sogar eine geringere Dauer als diese Achtelsekunde gehabt haben. Denn für unsere Tätigkeit ist das menschliche Augenmaß und seine übrigen sinnlichen Fähigkeiten der entscheidende Maßstab. Denn der Mensch muss die Möglichkeit haben uns wahrzunehmen, damit unser Schutz wirksam werden kann. Ob unsere Existenz und Anwesenheit in seinem Leben auch tatsächlich in sein Bewusstsein dringt, ist dagegen vollkommen belanglos. Die Möglichkeit der Aufmerksamkeit, die den Sinnen eigen ist, stellt unserer Wirkmächtigkeit alle Facetten zur Verfügun, die sie  benötigt. Da sich unsere Wirkmächtigkeit auf irdische Bedingungen bezieht, ist sie keineswegs perfekt oder unendlich, aber doch sehr weitreichend.

Du merktest, dass sie plötzlich da war. Und du merktest, dass sie ebenso plötzlich verschwand. Dieses unendlich tiefe Loch in der Ewigkeit hat sie verschluckt. Es hat siech als ein ganz einfaches Loch ausgegeben, als der Meter zwischen Bahnsteig und Gleisen. Diese Tarnung ermöglicht den Menschen eine logische Wiedergabe des Ereignisses. Aber allen direkt Beteiligten ist mit der Logik nicht geholfen. Du bist auch beteiligt. An dieser Art von Ereignissen ist man nie freiwillig beteiligt. Und ich wende mich auch nur deshalb an dich, gebe dir Gedanken, weil du beteiligt bist. Und du bist in ganz besonderer Weise beteiligt. Denn wenn man jemandem begegnet, der plötzlich da ist, der dann ebenso plötzlich verschwindet, ist dieser Mensch einem unwiderruflich nahe gekommen. und diese Nähe wird lebenslänglich gelten. Doch ab und zu wird sie ein Bisschen ihr Gesicht verändern, diese Nähe. Und das alles tut der Mensch, der einem zu nahe tritt, nicht freiwillig und auch nicht absichtlich. Und so wie er kam und ging ist er nicht mehr als ein Phantom. Der Mensch soll so weit wie möglich davor geschützt werden mit Phantomen leben zu müssen. Und zu schützen, das ist meine Sache. Und damit sie kein Phantom ist, sollst du etwas über sie wissen.

Sie war siebzehn und hieß Jasmin. Oh, ja, sie war in deinem Alter. Nicht nur durch ihre Größe war sie eine auffällige Person. Sie lebte bereits seit vier Jahren von jedem heimischen Gefühl entfernt. Sie war unterwegs. Jasmin kam schon seit langer Zeit nirgendwo mehr an. Sie wäre schwarz mit der Bahn gefahren, die sie vorläufig unter sich begrabenhatte. Sie wäre eingestiegen und irgendwann und irgendwo ausgestiegen, um wenigstens so zu tun, als könnte sie irgendwann und irgendwo ankommen. Sie hatte ein leeres Gesicht mit dunklen Augen. Und sie stand sehr nah bei den Gleisen. Sie merkte es nicht. Sie war den Gefahren immer sehr nahe, also auch dieser.

Ja, sie hatte ein leeres Gesicht mit dunklen Augen. Das Schlagzeilenwissen von morgen, das übermorgen schon älter sein wird als fast alles andere, wird zu wissen glauben, dass alles an Drogen lag. Aber Drogen haben wenig bis gar nichts mit alledem zu tun. Das leere Gesicht, der fehlende Augenblick, der so plötzlich zu einer Konsequenz führte, kommt vom Aufsehen, vom Hinsehen ohne zu sehen und vom Wegsehen, ohne den Blick abwenden zu müssen. Ständig aufgesehen zu werden, ist eine Möglichkeit keinen eigenen Augenblick mehr zu haben. Und diese Art den Augenblick zu verlieren, wird immer häufiger. Jasmins blickloses Gesicht ist deinem fehlenden Augenblick begegnet. Von ihrem eigenen fehlenden Augenblick hat sie gewusst. aber zu spüren bekommen hat sie ihn erst, als sie dein Gesicht sah. Sie wankte. Das konnte sie sich aber nicht erlauben, da sie der Gefahr schon viel zu lange nahe stand.

Du willst die Erklärungen und die Versuche zu verstehen nicht hören. Du redest dich heraus, dass das alles nicht reicht. Es wird bei den Menschen immer beliebter, verstehen und entschuldigen einander gleichzusetzen. Das ist wunderbar einfach. Denn dann hat man jemanden, den man der falschen Entschuldigungen bezichtigen kann und zwar da, wo es keine Entschuldigungen gibt. Und das tut man damit man menschlichen Dingen nicht gleichermaßen mit Gefühl und Verstand begegnen muss. Wenn es bei diesem Ereignis überhaupt eine Schuld gibt, dann ist es die Schuld der Aufseher, die das An- und Hinsehen verlernt haben. Einfach nur zusehen ist viel einfacher. Die habgierigen Blicke vermehren sich unentwegt. Und mit dem Zusehen kann man sich leicht und schnell aus dem Staub machen, ohne selbst gesehen zu werden.

Übrigens, hatte der Fahrer der bahn auch keine Schuld und keine Chance. Er konnte nicht mehr gegen das unselige Gesetz der Geschwindigkeit tun als auf die Bremse zu treten. Aber um ihn kümmert sich jetzt ein anderer Schutzengel. Ich lasse mich auf die Schuldfrage nicht weiter ein. Das ist Chefsache, was für das Stopfen von unendlich tiefen Löchern in der Ewigkeit ebenfalls gilt. Und diese Aufgabenteilung ist das einzige, was mich in solchen Augenblicken, wenn ich das Fehlen eines Augenblicks zu spüren bekommenhabe, trösten kann.“

© Paula Grimm, 23. Oktober 2017

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